Was das Reisen mit mir macht…

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Absichtslosigkeit in Zeit und Raum sind wichtig. Der Ort, in dem das Ungeplante und die Spontaneität zuhause sind, wo man sich treiben lassen kann, wo keine Organisation oder aufgeregte Kommunikation stattfindet, wo totale Entspannung und Freiheit herrscht, keine nervöse Coolness oder Beschäftigungs-/Ablenkungstherapie, dieser Ort wird immer wichtiger für mich. Also dort, wo Handys demonstrativ ausgeschaltet bleiben und der Laptop in den Ferien auch Ferien hat.

Youbeee-Expertenbeitrag

Ich habe vor ein paar Jahren bemerkt, dass ich viele Strukturen um mich herum gehegt und gepflegt hatte. Es gab im meinem Leben sehr viel Ordnung, Halt, sehr viele Pläne und Berechenbarkeit, und das alles hat etwas Schönes, Beruhigendes an sich. Ich fühlte mich sicher und aufgehoben in meinem komfortablen Raum. Mein Job etwa gab mir viel Zufriedenheit, erfüllte meinen Wunsch nach Entwicklung und Austausch sowie meine finanziellen Bedürfnisse. Ich fühlte mich getragen von Familie und Freunden zuhause in der stabil-sicheren-komfortablen Schweiz. Es gab also nicht viel zu jammern. Aber etwas fehlte!

Der Raum für Unberechenbarkeit, für tiefste Gelassenheit, für Regeln-brechen, Verrücktheit und Improvisation war recht klein geworden. Wo blieben Spiel, Tanz, Leichtigkeit und ausgelassene Lebenslust? Wieso gab ich ihnen nur sporadisch Raum und lebte nicht viel, viel öfter? Wo hatte ich meine Unvernünftigkeit, absolute Entspannung und Wildheit versteckt und wo würde ich sie wieder finden?

Ich fühlte mich manchmal etwas eingeschlossen in meiner überschaubaren Welt. Das fiel mir aber nur dann auf, wenn ich mir kurze Momente „ausserhalb“ meines gewöhnlichen Lebensrhythmus gegönnt hatte. Wenn ich eine Nacht durchgetanzt hatte, wenn ich gefeiert hatte, die Stadt verliess, unbekanntes Terrain erkundete, Anders-Denkende traf, dann merkte ich wieder, wie verplant ich sonst so vor mich hin lebte.

Besser gesagt: ich wurde verplant, von einer stabilitätsliebenden, also ängstlichen Seite in mir. Und zwar sehr effektiv. Sie organisierte mir eine klare Struktur und regelmässige Termine bei der Arbeit, sorgte dafür, dass ich regelmässigen Austausch mit Freunden, Familie hatte, denn allzu lange alleine sein wollte ich dann doch nicht. Ich stellte jeden Morgen meinen Wecker, hatte meine Agenda immer, wirklich immer im Griff, wusste über alles Bescheid, was ich brauchte, und war top organisiert.

Mein Leben verlief ziemlich berechenbar, durchaus entspannt, eher geregelt und eben überblickbar innerhalb dieser Komfortzone. So lange alles rational war, solange alles funktionierte, ging es mir gut.

Nun ist gut aber nicht gut genug für mich.

Die vernachlässigte emotionale, kreative, wagemutige und experimentierfreudige Seite in mir wollte viel öfters ausbrechen und Neues erleben! Sie wollte mehr Intensität! Nach Lust und Laune handeln! Unverplant sein! Sich noch viel öfters fallen und sich treiben lassen! Verrückt und ekstatisch tanzen!

Nun, diese lebendig-bunte Seite hat in den letzten paar Jahren immer wieder Begegnungen provoziert und Umstände erzeugt, die sich die sicherheitsliebende Nicole nie zu erträumen gewagt hätte! Je länger je öfter. Heute liebe ich diese Farbigkeit im Alltag und wünsche mir, dass er immer noch farbiger wird. Ich tanze, so oft ich kann, ich reise, so oft es möglich ist. Ich lerne neue Menschen kennen, praktisch täglich. Denn eigentlich kann (m)ein Alltag gar nicht farbig genug sein.

Um mich richtig herauszufordern, bin ich alleine in den Dschungel Brasiliens gereist. Okay, die vorsichtige Nicole hat zuvor ein paar Portugiesisch-Lektionen abgesessen — aber immerhin! Für meine Verhältnisse war das schon mutig. Und so habe ich dem Unbekannten, das mich da erwartete, vertraut, mich eingelassen auf alles, was da so kam. Habe mich treiben lassen und wunderbare Menschen und Ereignisse in mein Leben gezogen. Und habe wieder mal gemerkt, dass der meiste Spass dort entsteht, wo alles entspannt, frei und unverplant verlaufen darf. Wo alles fliesst.

Grundsätzlich werde ich auf Reisen am meisten gefordert. Nie ist das Leben unberechenbarer und unplanbarer, und gleichzeitig ist es nie wilder und erfüllender. Ich reise sehr oft, gerne allein. Zu zweit ist alles leicht, man hat immer jemanden, auf den man sich verlassen kann. Aber nur alleine komme ich an den Punkt, über mich selber hinauszuwachsen — jedes Mal, nachdem ich überwunden habe, was mir im Wege steht. Dinge zu akzeptieren, die nicht funktionieren, dabei entspannt zu bleiben, möglichst wenig zu planen, alleine all das zu unternehmen, worauf ich Lust habe, mich auf Unbekanntes zu freuen und dabei viel Spass zu haben.

Die sicherheitsbewusste Seite in mir kriegt zwar zwischenzeitlich fast keine Luft, wenn der Bus tief in den Anden stecken bleibt, wenn der Jeep in Namibias Dünen in einem Sandloch versinkt, wenn das Flugzeug in München durchstartet oder in Charles de Gaulle ausgerechnet an Weihnachten wieder mal alles streikt und ich am Boden sitze und kalten Kaffee trinke, bis die Swiss dann doch alles regelt und uns Passagiere nach Hause bringt. Und das alles, während die entspannte Seite innerlich lächelt und vertraut, dass am Ende immer alles gut kommt. Ich möchte noch viel öfters auf diese gelassene Seite hören können, denn in tieser tiefen Entspannung passieren mir Dinge wie diese:

  • Mein Herz ist im Dschungel Brasiliens vor lauter Intensität und Berührung wild gehüpft. Nie war Weihnachten schöner.
  • Mein Körper hat beim wochenlangen Salsa tanzen in Havanna vor lauter Energie kaum Schlaf benötigt. Soviel Hitze mitten im Winter.
  • Mein Verstand hat in Bali dank Meditation sehr viel Altes losgelassen und ganz neue Tatkraft, Mut und Kreativität entwickelt. Soviel Klarheit und Ruhe.
  • Und meine Seele hat im nördlichen Kalifornien ihr Urvertrauen im Tanz ganz neu gefunden. Neue Dimensionen.

Ich weiss heute, dass Absichtslosigkeit, mich-treiben lassen, Kreativität, Spontanität und Improvisation für meine Entwicklung sehr wichtig sind. Weil sie meine Seele tanzen lassen.

Dass alleine reisen oder alleine im Café sitzen einfach grossartig ist. Vielleicht gibt es Leute, die einen da bemitleiden, das hätte ich selber vor zehn Jahren wohl auch noch getan. Heute aber denke ich mir dann nur, dass sie diese wunderbare Qualität für sich selber noch nicht entdeckt haben. Alleine sein zu können (nicht zu müssen!) ist nämlich die wichtigste und schönste Eigenschaft, die man überhaupt entwickeln kann. Wenn man alleine entspannt und glücklich sein kann, wenn man das sogar geniesst, dann stehen einem alle Türen für schönste Begegnungen offen. Erwartungslose, bereichernde, lustige, spontane Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Ich freue mich schon auf die nächste Überraschung.

Titelbild: „barefoot“ © Markus Spiske / raumrot.com flickr.com CC BY 2.0

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