Eine Stunde Langsamkeit

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Was hat die Autobahn mit der Dauer von Gerüchen und der Angst vor der Faulheit zu tun?

Die Langsamkeit, Erzfeind der Ungeduld und darüber hinaus verdächtig, mit der Langeweile unter einer Decke zu stecken, entpuppt sich als vielbegehrtes Gut. Sie einzufangen scheint trotz zahlreicher Tipps und bestehender Praktiken nicht so einfach. Auf der Suche nach einer Antwort, was es mit dem Wunsch nach Langsamkeit auf sich hat, begegnen wir den Autonauten, dem Verweilen von Düften und der 25. Stunde, die wir zurückerobern müssen.

„Wir könnten jeden Tag auf einem anderen Parkplatz wohnen, fernab der Welt, stell dir vor, und auf diesem Monstrum der Geschwindigkeit in aller Freiheit eine Erholungskreuzfahrt machen …“ Dieser Wunsch aus dem Buch Die Autonauten auf der Kosmobahn von Julio Cortázar und Carol Dunlop beschreibt die Geburt der Idee für eine Forschungsreise. Das Schriftstellerpaar hat diese Reise 1982 verwirklicht und einen Monat entlang der Autobahn von Paris nach Marseille gelebt. Ihre selbstauferlegten Regeln verboten ihnen, die Autobahn zu verlassen, und schrieben vor, an jedem Rastplatz zu verweilen und an jedem zweiten zu übernachten. Ein wunderbares Vorbild für Langsamkeit inmitten der Symbole von Schnelligkeit schlechthin. Die Forschungsreise von Cortázar/Dunlop ist eine Hommage an die Langsamkeit, die der Beschleunigung unseres Alltags trotzt. Die Vorstellung, sich auf einer Autobahn Zeit zu nehmen um alle Winkeln zu erforschen, und an Durchzugsorten zu verweilen, verwirklicht das Liebespaar nicht nur auf romantische Weise, sondern ist auch eine besondere Form von Hochgeschwindigkeitskritik in einer Gesellschaft, die sich immer schneller fortzubewegen scheint.

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Das Verweilen riechen

Neben der Autobahn offenbart sich auch die digitale Bilderwelt als Freund der Beschleunigung, wie Film- und Fernsehgeschichte bestätigen. Unsere Augen passen sich an. Byung-Chul Han beschreibt in seinem philosophischen Essay über Die Kunst des Verweilens die Qualität des Duftes im Gegensatz zu Bildern. „Der Duft ist träge“, so der Philosophieprofessor der Berliner Universität der Künste. Mehrere Düfte ließen sich nicht so einfach aneinanderreihen und beschleunigen. Ein Duft dauert. Die Dauer an sich scheint der Preis für das Mithalten in einer schnellen, digitalen Welt zu sein. Wir vermögen laut dem durchaus pessimistischen Denker, die Qualität der Dauer kaum noch zu empfinden. Er plädiert für ein kontemplatives Leben, in der Gemächlichkeit Voraussetzung für das Erleben von Tiefe ist und den Platz der Aktivitäts-Doktrin einnimmt. Das Bedürfnis nach Zeit zum Verweilen wächst mit der Beschleunigung. Warum ist der Kampf gegen innere Unruhe und Ungeduld dennoch so schwierig zu gewinnen? Haben wir Angst, der Faulheit verurteilt zu werden, wenn wir uns Zeit zum Verweilen nehmen?

Die Angst vor der Faulheit

Manfred Koch (Essayist und Literaturwissenschafter) beschreibt in seinem Essay über Die schwierige Disziplin der Faulheit die Entwicklungsgeschichte des geächteten Nicht-Tätig seins. Mit der Idee des Wirtschaftwachstums sei eine unerschütterliche Arbeitsmoral und, damit einhergehend, die „Dämonisierung der Faulheit“ entstanden. Dabei, so der Autor, standen Muße und Nichtarbeit bis in die Neuzeit als respektierte Lebensform kulturell über der Doktrin der Arbeit. Die kapitalistische Arbeitsethik hat sich aber etabliert und dahin entwickelt, dass wir in der Gegenwart auf Dauerarbeitende treffen, die einer Masse an Dauerarbeitslosen gegenüberstehen – abgesehen von den Stigmatisierungen harmonisiert auf beiden Seiten das vorgegebene Lebenstempo oft nicht mit den Bedürfnissen. Soziales und persönliches Tempo zu vereinen scheint kein leichtes Unterfangen. Es gibt verschiedenste Strategien für den Umgang mit der Geschwindigkeit des Alltags, dem wir uns fügen oder wie die Autonauten entgegenstellen können. Diese Strategien sind wohl so vielfältig wie die inneren Uhren und die Tempi verschiedener Menschen.

Eine Stunde Langsamkeit

Die Physiologen Jürgen Aschoff und Rütger Wever vom Max-Planck-Institut beobachteten 1963 mehrere Probanden, die drei bis vier Wochen in bunkerartigen Räumen ohne Hinweise auf das Vergehen der Zeit lebten, um die biologische Uhr des Menschen zu untersuchen. Ergebnis war ein natürlicher Tagesrhythmus mit 25 Stunden, der sich bei den Probanden unabhängig voneinander einpendelte. Das Experiment wurde vielfachwiederholt, erweitert und bestätigte die biologische Uhr, die scheinbar eine Stunde mehr als die vorgegebene Zeiteinteilung vorsieht. Vielleicht ist das Fehlen dieser einen inneren Stunde eine Quelle der Unruhe, die uns dazu zwingen möchte, in weniger Zeit mehr zu erledigen als möglich? Es ist an uns, den Spieß umzudrehen und uns die verloren gegangene Stunde zurück zu holen statt uns von ihr hetzen zu lassen. Mit dem Recht auf Langsamkeit gönnen wir uns doch eine 25. Stunde und genießen diese so autonautisch wie möglich.

 

Zitate und Lesetipps:

Byung-Chul Han: Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. transcript2014.

Byung-Chul Han: Philosophie des Zen-Buddhimus. Reclam 2012 [2002].

Julio Cortázar/Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris-Marseille. Suhrkamp 2014 [1983].

Werner Kinnebrock: Was macht die Zeit, wenn sie vergeht? Wie die Wissenschaft die Zeit erklärt. C.H.Beck 2014 [2012].

Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Zu Klampen 2012.

Fotocredits

Titelbild: „Autbahn bei Nacht“ by Hannipic (PhotoArt Laatzen) via Flickr CC BY 2.0

Foto im Artikel: © Ria Zurba

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