Gemütliche Lesezeit ca. 9 Minuten.
Indem wir unsere Aufmerksamkeit zwischen Innen- und Aussenwahrnehmung pendeln lassen, erleben wir Wandern intensiver. Die philosophische Praxis Focusing lässt uns erfahren, wie unser Denken und Spüren im Körper verwurzelt ist. In seinem Artikel beschreibt der Physiker und Coach Hanspeter Mühlethaler, wie er Focusing erfolgreich beim Wandern einsetzt.
Youbeee Expertenbeitrag
Schweigend wandern wir im Schweizer Eigental dem Rümlig entlang. Es ist ein früher Morgen im September. Ich lasse Gedanken und Aufmerksamkeit frei schweben. Die Bergwelt erstrahlt im hellsten Sonnenlicht; nichts als Wälder, Wiesen und das Rauschen des Bachs.
Jetzt richte ich die Aufmerksamkeit nach innen, achte auf die körperliche Resonanz, welche die äußeren Eindrücke in mir auslösen. Eine erste, vertraute Reaktion ist das befreite Atmen in der frischen Luft. Der Körper findet langsam seinen Rhythmus und entspannt sich. Ich spüre, wie mein Inneres – je nachdem, welchen Eindruck ich in den Vordergrund stelle – unterschiedlich mitschwingt. Was ist gerade jetzt das Wichtigste? Ah, die Blätter des Bergahorns zeigen die ersten Verfärbungen. Ich erinnere mich an die vielen Wanderungen in meiner Jugend, mit der Familie, mit Verwandten. Der Bergahorn mit seinen gelben, teilweise schon gefallenen Blättern und deren eigenem Geruch, genau: Herbst in den Bergen. Dieser Gedanke berührt mich, wird zum beglückenden Erlebnis von tiefem Verständnis.
Nach einer halben Stunde tausche ich meine Erfahrung mit meiner Partnerin aus und erfahre, dass für sie das Rauschen des Baches am eindrücklichsten war und ihr half, den Alltag und die Sorgen den Fluss hinunter schwimmen zu lassen. Das schaffte in ihr Platz, um einfach die Wärme und die Kraft des Körpers wahrzunehmen und sich lebendig und glücklich im momentanen Augenblick zu fühlen, sich langsam zu öffnen für neue Eindrücke: Farben, Gerüche, Menschen um sie herum.
Im Workshop lernen die TeilnehmerInnen Focusing kennen und wenden es auf verschiedene Arten auf Wanderungen an. Die Methode wurde vom amerikanischen Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin vor 40 Jahren eingeführt. Sie wird in der Psychotherapie erfolgreich angewandt. Mehr und mehr wird jedoch die Bedeutung von Focusing als philosophische Praxis und dessen Bedeutung für die Unterstützung kreativer Prozesse erkannt.
Bewusste Wahrnehmung von außen und innen
Im Focusing üben wir, die Aufmerksamkeit nach innen, in unseren Körper zu lenken. Im Gegensatz zu gängigen Achtsamkeitsmethoden versuchen wir jedoch nicht, möglichst in einen Zustand tiefer Entspannung zu gelangen, sondern achten auf die Empfindungen, welche äußere Einflüsse und Wahrnehmungen in uns auslösen. Unser Interesse richten wir besonders auf Bereiche, wo etwas unklar ist. Im Alltag ignorieren wir diese Empfindungen meist, da wir keine Begriffe dafür haben und sie daher oft sogar als unangenehm erleben.
Wenn wir uns diesen Empfindungen jedoch geduldig zuwenden, verändern sie sich, sie verdichten sich, wir spüren, dass sie uns etwas zu sagen haben. Oft entsteht daraus ein sehr stimmiges Wort, ein Satz oder ein Bild. Wir erleben eine beglückende und befreiende Erleichterung, machen einen frischen, tiefen Atemzug. Wir erkennen, dass unser ureigenes Wissen von einer Sache genauer und interessanter ist, als was wir gelernt haben. Focusing hilft uns zu einem veränderten Verständnis von uns und der Welt, jenseits allen Expertenwissens.
Nachdem wir in der ganzen Gruppe von unseren Erfahrungen berichtet haben, stehen wir am Anfang eines langen Aufstiegs. Ich merke, wie sich meine Aufmerksamkeit nach innen richtet, vielleicht halte ich noch etwas sorgenvoll nach dem Ziel Ausschau – oder doch lieber nicht? Ich beobachte meine Gedanken: Wäre ich doch schon oben! Ich beginne Strategien zu entwickeln, beobachte die Uhr … immer noch … ich beginne mir Zwischenziele zu setzen … bis zu jenem Baum … dann zum Fels mit dem Wanderwegzeichen…
Aha, ich leide. Mein Freiraum ist im Eimer, meine Gedanken bewegen sich im Kreis – wie lange noch? – Strategien… Schon geht es mir etwas besser. Indem ich mich und meine unangenehmen Empfindungen beobachtet habe, hat sich zwischen Leiden, „Strategieren“ und mir ein kleiner Abstand geöffnet, ein bisschen Freiraum. Ich kann mir darin Fragen stellen wie „Ist da noch mehr als Leiden?“ oder gar „Gibt es einen Ort, der noch etwas Freude spürt?“ oder „Was bräuchte es dazu?“. Ich verweile mit den Fragen, suche sie nicht zu beantworten.
Diese Situation gleicht jener am Anfang eines Focusingprozesses, wo ich tausend Ablenkungen finde, damit ich mich nicht mit dem unscheinbaren, unklaren, ja unangenehmen Gefühl beschäftigen muss. Wie beim Aufstieg laufe ich Gefahr, den nötigen Freiraum zu verlieren: Gedanken, Strategien, Probleme oder Emotionen nehmen mich gefangen.
Mehr Gelassenheit durch Selbstbeobachtung
Im Focusing lernen wir, wie wir unseren Freiraum (wieder) gewinnen können, indem wir innerlich einen kleinen Schritt von uns weg machen und uns selbst beobachten: Ah, ich bin wütend. Oder: Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Statt mein unangenehmes Gefühl zu bekämpfen, weg haben zu wollen oder mich selbst für meine „schlechten“ Gedanken zu verurteilen, beobachte ich mit einem gewissen Wohlwollen, was da ist. Ich beginne verständnisvoller mit mir selbst umzugehen.
Bezogen auf das Leiden oder die Ungeduld am Berg: Ist es möglich, dass neben der Anstrengung oder gar dem Leiden auch noch ein Rest Freude vorhanden ist? Vielleicht kann ich mich auch fragen, was ich bräuchte, um diese Freude (wieder) zu finden. Etwas langsamer gehen oder vielleicht etwas mehr auf den Atem achten? Ein längerer steiler Aufstieg ist ein ideales Übungsfeld für den Freiraum.
Eine Blume am Wegrand zieht meine Aufmerksamkeit an. Ich halte einen Moment an, nehme mir Zeit, mich von ihrer Schönheit berühren zu lassen. Ich staune, lasse mich jetzt von diesem winzigen Universum faszinieren, an welchem ich achtlos vorbeiging. Meine Gedanken werden angeregt, ich möchte auch den Namen der Blume erfahren.
Es lassen sich viele Verbindungen zwischen dem eher innerlichen Prozess des Focusing und dem Wandern in der freien Natur aufzählen. Der Effekt ist eine vertiefte Wahrnehmung und Verbundenheit mit sich und der Natur. Nach unserer Erfahrung drückt sich diese Verbundenheit als Berührung aus: wir spüren, wie äußere Eindrücke unseren inneren Erlebensraum anregen, ähnlich wie ein Stein, der in einen ruhigen Teich geworfen wird, Wellen auf der Wasseroberfläche erzeugt, die langsam wieder abklingen.
Ein Ziel des Workshops ist es, mit eigenen Fragen und Ideen zu experimentieren und oft überraschende Einsichten zu finden. Schweigend Wandern in der Gruppe z. B. wurde als entlastend erlebt: Aus der vorgegebenen Aufgabe wurde ein befreites Schweigen-Dürfen.
Am Anfang unserer Idee, Wandern und Focusing zu verbinden, stand der Wunsch, zwei Passionen miteinander zu verbinden. Unsere ersten Erfahrungen bestätigen Gendlins Aufforderung, Focusing nicht als Technik aufzufassen, sondern als eine Haltung, die hilfreich ist für alles, was wir tun. Sie lässt uns tiefere neue Zusammenhänge und Bedeutungen in allem erkennen, was wir erleben. Die Welt gewinnt an persönlichem Reichtum. Und wo sonst als in den Bergen erleben wir den Reichtum der Welt so intensiv?
Hanspeter Mühlethaler führt auch in diesem Jahr wieder Wandertage durch. Der Fokus liegt dabei nicht darauf, Kondition und Leistung zu üben, sondern zu üben, auf die Bewegung, die Natur und innere Resonanz zu achten. Hier geht es zu den Angeboten auf Youbeee.
Schreibe einen Kommentar