Was ist eigentlich Yoga und Tantra? Und was haben sie miteinander zu tun?

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Kürzlich wurde ich mit der Frage konfrontiert, ob sich Tantra aus Yoga oder Yoga aus Tantra entwickelte. Meine Gesprächspartnerin behauptete ersteres, und ich vertrat die gegenteilige Meinung. Doch wenn wir uns die historische Entwicklung anschauen, dann gibt es keine eindeutige Antwort.

Einerseits veränderte sich die inhaltliche Bedeutung der Begriffe „Yoga“ und „Tantra“ über die Jahrhunderte, und andererseits entwickelten sich die mit diesen Begriffen verknüpften Traditionen schon lange vor den ältesten erhaltenen Schriften. Das Argument, die Yoga Sutras seien früher geschrieben worden als die ersten tantrischen Texte, zählt deshalb nicht. Die tantrische Tradition existierte schon Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende früher und war mündlich überliefert worden. Zudem haben sich die verschiedenen Traditionen auf dem indischen Kontinent, insbesondere auch die drei Hauptströmungen Vedanta, Buddhismus und Tantra, über die Jahrhunderte gegenseitig beeinflusst und vermischt.

Ursprüngliche Bedeutung des Yoga

Der Begriff Yoga taucht erstmals in den alten vedischen Schriften ab 1500 v.Chr. auf und bezeichnet verschiedene Praktiken zur spirituellen Entwicklung. Diese Praktiken wurden ursprünglich im Sinne von Lebenswegen verstanden. Es wurden drei Wege unterschieden, wie sie in der Bhagavad Gita, eine der wichtigsten Schriften, zusammengefasst werden: Bhakti Yoga (Weg der Hingabe zu Gott), Jnana Yoga (Weg der Erkenntnis) und Karma Yoga (Weg des Handelns). Extensive Körperübungen, was heute in der westlichen Welt als „Yoga“ betrachtet wird, standen damals nicht im Vordergrund.

Die Veden werden von den Brahmanen, der obersten Kaste der arischstämmigen indischen Bevölkerung, als die offiziell anerkannte Tradition betrachtet. Die Arier wanderten um ca. 1500 v.Chr. aus der Gegend des heutigen Iran nach Indien ein. Sie setzten sich gegen die in Indien ansässigen Völker, unter anderem den Draviden, durch. Dabei vermischte sich ihre Tradition teilweise mit der dravidischen Kultur, obwohl sie ein Kastensystem mit klaren Abgrenzungen einführten. Die oberen Kasten waren den Ariern vorbehalten, während die Draviden zur untersten Kaste zählten.

Ursprünge der tantrischen Tradition

Vor der Einwanderung der Arier war der indische Kontinent vorwiegend von den Draviden bevölkert. Die dravidische Religion ist eine nicht-vedische Form des Hinduismus, die teilweise auf alten Schriften, den sogenannten Agamas, basiert. Die Agamas unterteilen sich in drei Traditionen, dem Shivaismus, Vishnuismus und Shaktismus. Später wurden die agamischen Traditionen auch als „Tantras“ bezeichnet. Einige Agamas sollen schon vor den Veden entstanden sein, wobei die ältesten erhaltenen Texte erst aus dem ersten Jahrtausend nach Christus stammen.

Der Begriff Yoga kann nicht ausschließlich der vedischen Tradition zugeordnet werden. Auch die Agamas führen diesen Begriff auf. Yoga wird sowohl im vedischen wie agamischen Sinn als Weg zur Selbsterkenntnis bezeichnet. Demgegenüber wird der Begriff Tantra heute als Sammlung von nicht-vedischen Traditionen verwendet.

Spätere Entwicklung von Yoga und Tantra

Verfolgt man die Entwicklung des Vedanta, wie die vedische Tradition später bezeichnet wurde, ist erkennbar, dass sich die yogischen Praktiken des 1. Jahrtausends n.Chr. vor allem auf Jnana Yoga (Yoga der Erkenntnis) konzentrierten. Eine der wichtigsten Schriften dieser Zeit ist Viveka Chudamani von Shankara aus dem 8. Jahrhundert. Der Fokus lag auf Meditation, und als Asana (Körperstellung) wurde die richtige Meditationshaltung bezeichnet. Dies geht auch aus den Yoga Sutras von Patanjali, eine der frühen yogischen Schriften um ca. 100 n.Chr. hervor, wo das Thema „Asanas“ in lediglich drei Strophen abgehandelt wird. Gerne berufen sich heutige Yogalehrer auf Patanjali, wenn sie die alte Tradition des Yoga herausstreichen wollen, übersehen aber oft, dass ihre Yogapraxis wenig bis gar nicht in den Yoga Sutras erwähnt wird.

Demgegenüber existierten in den tantrischen Traditionen des 1. Jahrtausends auch diverse Rituale und Körperübungen. Nach tantrischer Vorstellung existieren parallel verschiedene Wege zur Selbsterkenntnis, die je nach Entwicklungsstand und Vorzüge des Yogis praktiziert werden können. Abhivanagupta, der wohl bedeutendste tantrische Philosoph, fasste dies in seinem umfassenden Werk Tantraloka um ca. 1000 n.Chr. zusammen. Mit Bezug auf die Shiva Sutras, einer noch älteren tantrischen Schrift, unterschied er zwischen drei Hauptwegen: Shambavopaya (Weg des Bewusstseins), Shaktopaya (Weg der Selbsterkenntnis) und Anavopaya (Weg der individuellen Anstrengung). Während Shaktopaya Parallelen zum Jnana Yoga des Vedanta aufweist, gibt es für Shambavopaya und Anavopaya nur wenige Entsprechungen im frühen Vedanta. Shambavopaya bezeichnet die direkte spontane Erleuchtung. Unter Anavopaya werden diverse Praktiken aufgeführt, wie wir sie aus dem heutigen Yoga kennen, zum Beispiel Körperstellungen oder Kundalini (Lebenskraft).

Unterschiedliche Weltsichten

Die unterschiedlichen Ansätze zwischen Vedanta und Tantra basieren auf unterschiedlichen Weltsichten. In der orthodoxen (frühen) vedantischen Lehre gilt die Welt als Illusion (Maya). Die einzige Realität ist Brahman, das göttliche Bewusstsein. Diese Sichtweise wird auch als Non-Dualität bezeichnet. Ein orthodoxer Brahmane hätte sich niemals extensiv mit Körperübungen abgegeben, da ursprünglich die Vorstellung vorherrschte, der Yogi solle durch Meditation sein Bewusstsein vom Körper und der manifesten Welt lösen.

Demgegenüber gilt in der tantrischen Tradition die Welt als real. Sie entsteht laufend aus der Vereinigung der zwei polaren kosmischen Prinzipien, welche durch Shiva und Shakti symbolisiert werden: Das Bewusstsein und der energetische Fluss der manifesten Welt. Deshalb sind im Tantra sowohl non-duale wie auch duale Ansätze erlaubt.

Die Entwicklung des heutigen Yoga

In der westlichen Welt werden heute vorwiegend Körper- und Atemübungen als „Yoga“ praktiziert, wobei es hunderte von Stilrichtungen gibt. Die Ursprünge dazu liegen im Hatha– und Kundalini-Yoga des 12. bis 15. Jahrhunderts. Wichtige Schriften dazu sind Hatha Yoga Pradipika aus dem 15. Jahrhundert und Yoga-Kundalini Upanischad, deren Entstehungszeit unbekannt ist.

Heute ist allgemein anerkannt, dass sich diese Yoga-Formen aus der tantrischen Tradition entwickelt haben und später vom Vedanta übernommen wurden. Auch die Weltsicht des Vedanta wurde später vom Tantra beeinflusst, indem duale Sichtweisen übernommen wurden.

Die Entwicklung zum heutigen Tantra

In der westlichen Welt wurde Tantra zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt, indem aus den alten Traditionen vor allem die sexuellen Aspekte herausgepickt wurden, die im klassischen Tantra nicht im Mittelpunkt stehen. Das Ziel des westlichen Tantra liegt dabei je nach Ausprägung gar nicht, teilweise oder vorwiegend in einer spirituellen Entwicklung. Vor allem der indische Yogi Osho propagierte ab den 70er Jahren unter dem Begriff Neotantra eine Verbindung von Spiritualität und Sexualität als eine zeitgemäße Form von Tantra. In anderen Formen von Neotantra wird ein erfülltes Sexualleben angestrebt, mittels Übungen wie erotische Massagen oder Optimierung der Orgasmusfähigkeit.

Fazit

Die Kulturen haben sich über die Jahrhunderte stark vermischt. Die Ursprünge des heutigen Yoga können deshalb nicht nur einer Tradition zugeordnet werden. Besonders die körperorientierte Form des heutigen Yoga entwickelte sich zum überwiegenden Teil aus der tantrischen Tradition. Die Begriffe Yoga und Tantra haben heute andere Bedeutungen als früher. Während die Begriffe früher rein spirituellen Charakter hatten, werden sie heute meist mit weltlichen Praktiken in Verbindung gebracht. Historisch gesehen haben Yoga und Tantra völlig unterschiedliche Bedeutungen, weshalb die Frage, ob Tantra aus Yoga oder Yoga aus Tantra entstanden ist, keinen Sinn macht.

 

Quellen:

  • Abhinavagupta: Tantrasara – Translation from Sanskrit and Introduction by H.N. Chakravarty (Author), Boris Marjanovic (Editor), ISBN 978 0 915801 78 7
  • André Van Lysebeth: Tantra – The Cult of the Feminine, ISBN 0-87728-845-3
  • Jaideva Singh: Siva Sutras – The Yoga of Supreme Identity, ISBN 81-208-0406-6
  • Sri Aurobindo: The Bhagavad Gita, With Text, Translation and Commentary in the Words of Sri Aurobindo, ISBN 9788186510032
  • Swami Chetanananda: Dynamic Stillness Part Two – The Fulfillment of Trika Yoga, ISBN 0915801272
  • Chip Hartranft: The Yoga-Sutra of Patanjali – Sanskrit-English Translation and Glossary, http://www.arlingtoncenter.org
  • Sri Sankara: Vivekachudamani – translated by Achyarya Pranipata Chaitanya, http://www.advaitin.net/PranipataChaitanya/Vivekachudamani%20eBook%20FinalFinal1.pdf
  • Yogi Svatmarama: Hatha Yoga Pradipika, Sanskrit Text with English Translatin & Notes, http://sacredtexts.com

 

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